Whang Cheol-Mean — Werkschau

Werkstattkino München
8. — 14. Januar 2015

Der 1960 geborene koreanische Regisseur Whang Cheol-Mean 황철민 erhielt seine Ausbildung zum Filmemacher an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin und ist seit seiner Rückkehr 1996 zu einem der produktivsten und ausdauerndsten unabhängigen Filmemacher Südkoreas geworden. In seinen Filmen beschäftigt er sich mit aktuellen sozialen und politischen Themen der südkoreanischen Gesellschaft, wobei dies meist im Hintergrund fesselnder Dramen zwischen den Generationen, Hierarchieebenen und sozialen Schichten geschieht.

Obwohl sein Abschlussfilm Fuck Hamlet auf der Berlinale uraufgeführt und seine koreanischen Filme auf internationalen Festivals wie Rotterdam, Vancouver und Busan gespielt und auch ausgezeichnet wurden, ist Whang in Deutschland bisher weitgehend unbekannt.
Die Werkschau im Werkstattkino zeigt sechs seiner langen Spielfilme, die meisten als deutsche Erstaufführung, in koreanischer Originalfassung mit englischen Untertiteln. Whang Cheol-Mean ist zu Gast in München und wird Fragen zu seinem Werk beantworten.

Redaktion und Programm: Susanne Mi-Son Quester
Gestaltung: Florian Geierstanger
Bildnachweis: Cinegut
Vielen Dank an Whang Cheol-Mean, Bernd Brehmer, Kim Hyeon-Gyeong, Christoph Schwarz, Juli Schymik, Markus Nechleba und Dunja Bialas.

Die Veranstaltung wird gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München

Filme

Fuck Hamlet

Fuck Hamlet

83 min, 16mm s/w, Deutschland 1997. Buch, Regie: Whang Cheol-Mean, Kamera: Roland Bertram, Schnitt: Yvonne Loquens. Mit Till Sarach, Marion Bordat, Oliver Marlo. Der Film wurde 1997 im Forum der Berlinale uraufgeführt.

Berlin 1996: Der ostdeutsche Schauspieler Till sucht dringend einen Job und folgt einem Regisseur quer durch die Stadt. Zur gleichen Zeit kommt seine frühere Theaterkollegin Anna nach Berlin und sucht, einen mal aufdringlichen, mal fürsorglichen Gefährten im Schlepptau, nach Till. Eine Handvoll namenloser Nebenfiguren — eine Touristin, ein Straßenmusiker und eine Krankenschwester — vervollständigen das Bild der Stadt im Moment ihres Umbaus.

Beim Autor dieses Films ist der Blick noch weiter geschärft, die Empfindlichkeit noch erhöht durch das Bewußtsein bald wegzugehen aus diesem fremden Land — das vorübergehend ein eigenes geworden, gewesen war — so daß in diesem seinem Film in allen den Lebensaugenblicken der einzelnen Menschen wie in denen der Stadt und in den Stadtbildern ihre Vergangenheit, kürzere oder längere Geschichte, Vorgeschichte, und zugleich schon ihre Nachgeschichte, ihr Vorbeisein enthalten ist — und zu sehen, davon zu erfahren, wie Menschen in diesem Land sich selbst fremd werden, und einander fremd ohne es selbst zu merken.

 Helmut Färber
Spying Cam

Spying Cam

프락치     Frakchi

100 min, DV Farbe, Südkorea 2002. Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Whang Cheol-Mean. Mit Yang Yeong-Jo, Chu Heon-Yeob, Lee Hyeon-Hwa, Kim Hwang-Geun. Spying Cam erhielt den FIPRESCI-Preis in Rotterdam.

Zwei Männer in einer schmierigen Unterkunft irgendwo in Südkorea. Sie stehen in einem streng hierarchischen Verhältnis zueinander und müssen sich verstecken. Während der ältere bewaffnet ist und über ein Handy Anweisungen bekommt, besitzt der jüngere eine kleine Videokamera und hat ein Buch dabei, Dostojewskis Schuld und Sühne. Um die Zeit totzuschlagen, beginnen sie mit dem Mädchen aus dem Nachbarzimmer Dialoge aus dem Roman zu verfilmen und so die vorangegangenen Ereignisse zu verarbeiten.

Der Begriff ‹Frakchi› bedeutet ungefähr Spion. Im engeren Sinne bezieht er sich auf das frühere Militärregime in Südkorea. Damals gab es viele regierungskritische Organisationen, die meisten von ihnen studentisch. Frakchi waren Leute, die von der Regierung in diese Organisationen infiltriert wurden, um Videomaterial und Informationen zu sammeln. […] Trotzdem denke ich, dass es besser ist, vorher nicht zu wissen, was Frakchi bedeutet. Es ist besser, keine präventive Deutung parat zu haben, denn das könnte es erschweren, den Film ganz zu verstehen.

Hwang Cheol-Mean im Interview mit Paolo Bertolin, 2005
Let‘s Finish!

Let‘s Finish!

우리 쫑 내자!     Uri Jjong naeja!

100 min, HD Farbe, Südkorea 2007. Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Whang Cheol-Mean. Mit Jeong In-Ji, Kim Min-Jae, Hong Gi-Jun.

Drei junge Menschen haben sich im Internet zusammen-gefunden, um gemeinsam Selbstmord zu begehen. Die Spielregeln sind so streng wie einfach: Sie legen ihr Geld zusammen und jeden Tag bestimmt ein anderer, wo es hingeht, was gegessen und wo geschlafen wird — wenn das Geld alle ist, wollen sie sterben.

«Es gab zwei Orte, die ich in dem Film zeigen wollte: Einer ist der Strand in Byeonsan, Cheollabuk-do, wo die Regierung versucht, künstlich Land aus dem Meer zu gewinnen. Der andere Ort ist Pyeongtaek, wo das amerikanische Militär eine neue Kaserne bekommen sollte. Die Bauern wurden vertrieben, und an beiden Orten gab es Auseinandersetzungen und Demonstrationen. Die jungen Leute, die sich umbringen wollen, sie sitzen in ihrem eigenen Zimmer. Das heißt, sie haben den Kontakt zur Gesellschaft verloren. Mein Konzept war, dass die, die in ihrem eigenen Zimmer leben, gezwungen sind, dorthin zu gehen, wo es eine Gemeinschaft gibt. Deswegen habe ich sie an diese Orte geführt.»

Whang Cheol-Mean im Interview mit Susanne Mi-Son Quester, 2014
Moscow  

Moscow  

양 한마리, 양 두마리     Yang han-mari, yang du-mari

104 min, HD Farbe, Südkorea 2009. Buch: Whang Cheol-Mean, Kim Hyeon-Gyeong, Regie: Whang Cheol-Mean, Kamera: Kim Mu-Yu, Bak Hong-Ryeol, Schnitt: Lee Chan-Ho. Mit Seong Su-Jeong, Lee Hye-Jin.

Zwei Freundinnen aus der Mittelschule haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Während die eine nach einem Schauspielstudium Sekretärin in einer großen Firma geworden ist und ein angenehm-langweiliges Leben führt, hat die andere in einer Fabrik gearbeitet und ist gegen die ungerechten Arbeitsbedingungen in den Streik getreten. Erschöpft vom zähen Widerstand sucht sie die frühere Freundin auf, um ein wenig an ihrem Leben teilzunehmen und sich und sie an ihre früheren Träume zu erinnern.

Der Film ist den Arbeiterinnen des Kiryung Elektronikkonzerns gewidmet, die über vier Jahre gegen ihre Entlassung demonstriert haben.

Dieser Film ist eigentlich fürs Bürgertum gemacht. Es ging mir um die Frage, wer lernt eigentlich von wem? Viele Leute glauben, die Bürger helfen den Arbeitern, aber es ist meiner Meinung nach umgekehrt. Denn wer lebt denn in der Realität? Das arme Mädchen hat die nackte Wirklichkeit von Korea gesehen, und dadurch hat sie Erkenntnisse bekommen, die eigentlich für viele Menschen brauchbar sind. Das Leben ist hart, aber man kann durch so ein Leben die Energie bekommen, die die Umstände vielleicht überwinden kann.

Whang Cheol-Mean, 2014
Morning Glory

Morning Glory

나팔꽃    Napal Ggot

87 min, HD Farbe, Südkorea 2012. Buch: Kim Hyeon-Gyeong, Regie, Schnitt: Whang Cheol-Mean, Kamera: Kim Geon-Jong. Mit Song Jin-Wu, Lee Hye-Jin, Yang Han-Seul.

Ein erfolgloser Musicalkünstler kehrt anlässlich einer Beerdigung aus der Großstadt in sein Heimatdorf zurück. Er wird zunächst als ‹Local Hero› empfangen, stellt aber bald fest, dass auch hier die Zeit nicht stehengeblieben ist und die Zurückgebliebenen sich inzwischen ihre Nester gebaut haben. Seine Cousine, die kurz vor ihrem Lehrerinnendiplom steht und mit einem aufsteigenden Großgrundbesitzer verheiratet werden soll, offenbart ihm ihre langjährige Liebe und bittet ihn um einen letzten Kuss. Wie die Blumen, deren Eigenschaften das Mädchen aus einem botanischen Lehrbuch zitiert, wandeln die Figuren durch den Film und versuchen, ihre jeweilige Situation und ihre Gefühle zu verstehen.

Ich sehe sehr viele Schauspieler, die ein ähnliches Schicksal haben, vor allem auch unter meinen Studenten, den Absolventen. Die Koreaner nehmen die Meinung der anderen Leute sehr wichtig. Der junge Mann in meinem Film kann nicht sein eigenes Leben leben. Am Ende will er ins Ausland gehen, das ist eine Art Flucht. Er will den Wettkampf beenden, indem er verschwindet. Vielleicht wie in Kafkas Amerika.

Whang Cheol-Mean im Interview mit Susanne Mi-Son Quester, 2014
Oldmen Never Die    

Oldmen Never Die    

죽지 않아    Jugji anha

107 min, HD Farbe, Südkorea 2013. Buch: Kim Hyeon-Gyeong, Regie, Schnitt: Whang Cheol-Mean, Kamera: Lee Seung-Gyu. Mit Lee Bong-Kyu, Cha Rae-Hyeong, Han Eun-Bi.

Ein junger Mann ist in der Hoffnung auf ein großes Erbe zu seinem kranken Großvater aufs Land gezogen. Anstatt zu sterben, wird dieser wieder gesund, und der Neffe befürchtet, noch viele Jahre als billige Arbeitskraft für ihn schuften zu müssen. In einer verzweifelt-betrunkenen Nacht mit Freunden kommt die Idee auf, den Großvater durch eine leidenschaftliche Geliebte zu entkräften und so umzubringen. Obwohl der Neffe am nächsten Morgen alles Gesagte zurückzieht, taucht einige Tage später eine junge schöne Frau auf und beginnt, den Großvater zu verführen.
Im Hintergrund einer sich langsam, aber stetig zuspitzenden Handlung erzählt Whang von der politischen Spaltung Koreas, die eine tiefe Kluft zwischen den Generationen hinterlassen hat.

Interview mit Whang Cheol-Mean

Susanne Mi-Son Quester: Du hast über 15 Jahre in Deutschland gelebt und unter anderem an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin studiert. Welchen Einfluss hatte Deutschland auf deine künstlerische Entwicklung?

Whang Cheol-Mean: Meine filmische Ästhetik wurde dort geformt. Was ich mache, gilt in Korea als sehr deutsch [lacht]. Ich lege sehr großen Wert auf den Inhalt oder sagen wir, auf die Philosophie eines Filmes. Deshalb sind meine Filme auch nicht so populär. Ich weiß ja vielleicht, wie man einen Film drehen könnte, der sich besser verkaufen ließe, aber diese Filme gefallen mir nicht, und es würde mir keinen Spaß machen, sie zu drehen.

Susanne Mi-Son Quester: Warum bist du 1996 nach Korea zurückgegangen?

Whang Cheol-Mean: Meine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland war abgelaufen. Die DFFB hatte mir über die Jahre geholfen zu bleiben, aber am Ende ging es nicht mehr. Da musste ich mich schnell entscheiden und habe meinen Abschlussfilm Fuck Hamlet gedreht. Als ich schon wieder in Korea war, erfuhr ich, dass der Film auf der Berlinale gezeigt werden würde und bin nochmal zurückgekommen. Aber die Zeit in Deutschland war für mich trotzdem abgelaufen. Das war eine Sache. Zum anderen konnte ich ja lange nicht zurück nach Korea, weil ich mich für die koreanische Demokratisierung engagiert hatte. Ich hatte zwar kein Einreiseverbot, aber es war sehr gefährlich. Freunde von mir wurden am Flughafen verhaftet und verhört. Ein Bekannter ist auch im Gefängnis gestorben. Ich konnte also 13 Jahre nicht zurück nach Korea, aber dann gab es eine zivile Regierung, in der Zeit bin ich dann zurückgegangen.

Susanne Mi-Son Quester: Deinen nächsten Film, Spying Cam, hast du erst nach sechs Jahren gemacht.

Whang Cheol-Mean: Ich habe gleich das Drehbuch geschrieben, aber kein Geld gekriegt für die Produktion, es hat vier oder fünf Jahre gedauert. 1997 schrieb ich das Drehbuch, und 2001 bekam ich dann die Produktionsförderung, Digitalfilmförderung. 30 Millionen Won [ca. 22.000 Euro]. Es hätte noch andere Förderungen gegeben, aber die habe ich nicht gekriegt.
Ich stand zwischen zwei Stühlen. In Deutschland war ich ein Koreaner, und in Korea war ich kein richtiger Koreaner, denn ein richtiger Koreaner hat Freunde, die mit ihm zusammen studiert haben und mit denen er etwas zusammen erlebt oder unternommen hat, und das hatte ich ja nicht. Ich war schon 36, als ich nach Korea zurückkam, ich hatte kein ‹Network›. Da war es sehr schwierig, Förderung zu kriegen. In Deutschland wäre es aber sicherlich auch nicht leicht gewesen. Ich denke, das ist das Schicksal eines Grenzgängers.

Susanne Mi-Son Quester: In deinen Filmen gibt es sowohl eine enorme technische Entwicklung, aber dann habe ich auch das Gefühl, dass die Filme immer zugänglicher werden. Gibt es dafür eine Erklärung?

Whang Cheol-Mean: Das hat eigentlich mit meiner Ästhetik zu tun. Ich habe meine Magisterarbeit über Brecht und Film geschrieben, und aus dieser Arbeit ist mir klar geworden, dass nur die Kunst einen Sinn hat, die mit dem Menschen kommuniziert. Es geht darum, etwas zu verstehen, was nicht sichtbar ist in der Realität. Die normalen Filme zeigen etwas, das den Menschen gefällt, und damit basta. Aber nach Brecht ist das keine Realität, weil die Realität viel komplizierter und versteckt ist. Und ein Filmemacher muss die versteckte Realität erstmal aufdecken und dann verständlich machen. Was ich zeigen möchte, ist das, was in den Leuten drinnen ist. Ich glaube, das gilt für alle meine Filme. Sie zeigen unangenehme Sachen, und Brecht sagt auch, ich will euch unangenehme Sachen zeigen, nicht angenehme. Ich habe mit der Zeit die Technik gelernt, wie die Menschen auch das essen, was bitter ist.

Das Gespräch führte Susanne Mi-Son Quester im September 2014 in Seoul.